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Täter und Opfer - welche Rolle nimmst du ein?

Im folgenden Kapitel möchte ich zu einem Thema Stellung nehmen, das meiner Ansicht nach entscheidend für gesunde Beziehungen und auch entscheidend für die eigene Widerstandskraft ist: das Thema Täter und Opfer. Wenn über Resilienz gesprochen wird, dann wird gewöhnlich vor allem folgende Frage gestellt: Warum gelingt es manchen Menschen, massive Traumata durchzustehen und wieder ins Leben zu finden, während andere eine Krise mit objektiv gesehen geringerer Belastung nicht wirklich bewältigen können und an ihr zu zerbrechen drohen?
Meiner Erfahrung nach spielt die Bereitschaft, in jeder Situation die Augenhöhe zu suchen, in dieser Frage eine entscheidende Rolle. Und so ist es am Ende nicht die Erfahrung an sich, die maßgeblich dafür ist, ob wir sie bewältigen, sondern ob wir ihr als Opfer begegnen. Tun wir dies, so nehmen wir uns nicht nur die Möglichkeit, die Situation zu lösen, sondern wir verlieren sukzessive an psychischer Kraft. Oft sind es jene Betroffene, die sich in einer Täter-Opfer-Konstellation befinden und sich selbst als Opfer erleben, die zu mir in die Beratung kommen.
Keine andere Position ist meiner Ansicht nach so schwer aufzugeben und kostet so viel Kraft wie die Position des Opfers. Ich habe mich im Laufe jahrelanger Beratung immer wieder gefragt, was diese Position so mächtig macht. Es scheint die Kombination aus Hilflosigkeit und unbändiger Wut zu sein, die ihre Lösung vergeblich in der Anklage sucht und den Betroffenen gerade dadurch immer mehr Lebenskraft raubt. Statt die verlorene Augenhöhe wiederherzustellen und in den Dialog einzutreten, tun sie das Gegenteil: Sie begeben sich immer mehr in den inneren Rückzug und beginnen, die andere Person als Verursacher anzuklagen. Anstatt sich selbst zu retten, erwarten sie die Rettung durch denjenigen, der ihnen das Leid „angetan“ hat – sei es in Form von Wiedergutmachung, Anerkennung oder durch Rache. Es ist dramatisch zu sehen, wie sich Betroffene immer tiefer in denjenigen verkrallen, durch den sie das Leid erfahren haben, und jede Frage nach sich selbst als weiteren Angriff deuten und wütend bekämpfen müssen. So halten sie sich selbst in ihrem Leid gefangen, machen sich immer mehr zum Opfer und bewegen sich in der Abwärtsspirale nach unten.
DU bist Schuld!
Die Täter-Opfer-Konstellation ist deswegen so dramatisch, weil das Opfer sich im Kampf gegen den vermeintlichen Täter selbst gefangen nimmt, indem es sich durch die Anklage immer mehr an ihn bindet. Erst in dem Moment, in dem erkannt wird, dass man sich selbst mit dieser Haltung schadet, ist Licht am Ende des Tunnels.
„Verantwortung trägt, Schuld erdrückt.“
Die einzige Möglichkeit, sich aus der Position des Rückzugs und der damit verbundenen Opferrolle zu befreien, basiert auf der Bereitschaft, sich von der Schuldfrage zu verabschieden und sich die Frage nach Verantwortung zu stellen. Solange die Frage nach Schuld gestellt wird, so lange herrscht Anklage – solange Anklage herrscht, herrscht Klage, kann keine Klärung stattfinden. Wir können nur stark werden und stark wirken, wenn wir bereit sind, Verantwortung zu leben, und wenn wir bereit sind, uns aus jeder Situation selbst zu retten und das Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Diejenigen, denen es an Resilienz mangelt und die Schwierigkeiten haben, Krisen zu meistern, machen einen entscheidenden Fehler: Sie vermeiden es, den Blick auf sich selbst zu richten und sich in dem Moment ihrer Not die Frage nach eigener Verantwortung zu stellen. Die Frage nach Verantwortung birgt den Schlüssel zur Befreiung in sich. Wer sich wieder in die Verantwortung begibt, wird wieder zu sich selbst finden und dadurch zur eigenen Handlungsfähigkeit und Gestaltungskraft.
Die Frage der Verantwortung stellen heißt, sich selbst zu fragen: Was ist mein Anteil an der Situation? Und was kann ich tun, um mich aus ihr zu befreien? Sie heißt nicht mehr: Was hast du getan, sondern: Was kann ich jetzt tun? Dahinter verbirgt sich die grundsätzliche Bereitschaft, für jede Situation, in der man sich befindet, Verantwortung zu übernehmen. Es ist die grundsätzliche Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen.
Nur wer sich in der Phase des Rückzugs die Frage nach der eigenen Verantwortung stellt, wird sich aus der Opferposition befreien können. Dies erfordert die Bereitschaft, bedingungslos leben zu wollen und auf Rettung durch das Außen zu verzichten.
Diese Bereitschaft ist eine Grundvoraussetzung für Resilienz. Für sich selbst zu sorgen, selbst in den schwierigsten Lebenssituationen und unter den ungerechtesten und grausamsten Bedingungen. Die Bereitschaft zu handeln, die Bereitschaft für Taten. Es ist der unbedingte Wille, bedingungslos leben zu wollen. Was kann ich tun, um mich zu befreien? Es ist wohl eine der größten Herausforderungen im Leben, sich auch in Situationen, in denen offensichtliches Unrecht herrscht, von der Erwartung verabschieden zu können, dass dieses Unrecht immer durch denjenigen, der das Unrecht verantwortet, bereinigt werden muss.
Es ist wohl eine der größten Herausforderungen – und dennoch ist es die einzige Möglichkeit, sich selbst zu befreien und zurück ins Leben zu finden. Psychische Widerstandskraft entsteht, wenn Betroffene bereit sind, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Immer. In jeder Situation. Wenn Sie aufhören zu verlangen, dass dies jemand anderes tut.
Da, wo Betroffene aufhören zu klagen – in der Fremdanklage und in der Selbstanklage – und bereit sind zu handeln. Da, wo sie erkennen, dass sie niemanden haben außer sich selbst, der für sie Sorge trägt. Psychische Widerstandskraft entsteht, wo Betroffene die Bereitschaft für bedingungslose Selbstfürsorge entwickeln. Wer nicht erkennt, dass die Frage nach der eigenen Verantwortung den einzigen Schlüssel zur Befreiung vom „Täter“ birgt, wird gleichsam an diesem zugrunde gehen. Resilienz setzt die Bereitschaft voraus zu erkennen: Ich habe niemand anderen außer mir selbst, der für mich sorgt. Erst wer diesen Weg gegangen ist, wer bereit gewesen ist, auf Wiedergutmachung und Anerkennung zu verzichten, der wird begreifen, dass diese Haltung ihn nicht nur befreit, sondern auch stark gemacht hat. Er wird die Erfahrung gemacht haben, dass er selbst dazu in der Lage ist, sich zu heilen – auch dort, wo unverschuldetes Unheil über ihn gekommen ist.

Prieß, Mirriam. Resilienz - Das Geheimnis innerer Stärke: Widerstandskraft entwickeln und authentisch leben - Mit 12-Punkte-Selbsttest - Was uns stark macht gegen Burnout, Stress und Erschöpfung (German Edition) (S.135-139). Südwest Verlag. Kindle-Version.

„Ich habe niemand anderen außer mir selbst, der für mich sorgt.“

Eine sehr wichtige Kernaussage finde ich!

Eine noch wichtigere Sache ist jedoch wie es zum Teil auch beschrieben ist („Da, wo Betroffene aufhören zu klagen...“), dass man sich aus der Situation nimmt. Dies bedeutet, dass man in die Lage kommt, dass man sich gedanklich und emotional aus den Verstrickungen der Situation löst indem man sie erst einmal vollumfänglich akzeptiert. Akzeptieren heißt dabei aber nicht zu resignieren und aufzugeben, sondern die Situation erst einmal so wie sie ist anzunehmen. So verliert sie ihren Schrecken und man löst sich aus der Opferrolle und Dem Kampf und kommt in die Lage dadurch die Zusammenhänge der Situation zu erkennen und dadurch die innere Freiheit Veränderungen herbeizuführen. Übernahme der Verantwortung für sich, Akzeptanz und daraus resultierende innere Freiheit sind meiner Erfahrung der Schlüssel schwierige Lebenssituatioen zu meistern.

Nicht einfach, aber lohnend!

Liebe Grüße, Rolf

 

 

 

 

Wie passend und gut ausgedrückt beschrieben. Es hat mich auf jeden Fall neugierig gemacht und ich werde mir das Buch besorgen. Im Kern habe ich die Zusammenhänge für mich erkannt, konnte sie aber nie anderen vermitteln. Das einzige Wort, dass mir dazu immer eingefallen ist war "lass los" aber einfach loslassen ist ein langer Weg der Erkenntnis, wenn man keine Hilfestellung hat und jemandem, der noch nie etwas losgelassen hat, erschließt sich die Kraft der Worte nicht, da man sich ganz oft in alltäglichen Situationen nicht als Opfer sieht. Dabei ist es so befreiend loszulassen und für sich selbst die Verantwortung zu übernehmen.

Lieben Dank für den Tipp und liebe Grüße

Barbara